Habe in diesen Tagen nochmals in Auszügen Tatbestand und Entscheidungsgründe in der Strafsache gegen Mulka und andere, Landgericht Frankfurt am Main, Az. 4 Ks 2 ⁄ 63, nachgelesen, besser, nein: schlimmer bekannt als Auschwitz-Prozeß. Anlaß war Andrei Kontschalowskis „Paradise„, beim Filmfestival auf dem Lido di Venezia 2016 mit dem zwoten Preis alias dem Silbernen Löwen prämiiert.
Eine Art Lore-Roman, um es gleich zu sagen, wobei an die Stelle von Schloß und Prinz und Dienstmagd ein Konzentrationslager tritt, dazu eine russische Adlige, zwei jüdische Kinder und ein adliger Nazi. Es folgt ein kunstlos erzähltes Verhältnis zwischen dem Lagerkommandanten und der russischen Adligen, die im KZ landet, weil sie die beiden jüdischen Kinder versteckt gehalten hatte. Nun führt sie dem Kommandanten und Liebhaber den Haushalt. Den Nazi präsentiert uns K. als frisch geduschten Bengel aus preußischem Altadel, der in einer Art Verhör bei fixierter Filmkamera (aktuelle filmische Modeerscheinung das, s. zB „Austerlitz„) post mortem seine Sicht darlegt. Als Lagerkommandant bramabarsiert er unter sowjetischem Artilleriefeuer und dem Einfluß der deutschen Offiziersdroge Nummer Eins, die war nicht das Pervitin, sondern der Kognak. Sein Triebschicksal hat ihm, geahnt hatte man es ja, eine Neigung auch zum Manne beschert. Ein passendes Exemplar sitzt gleich daneben und schaut mit starrer Mimik ins verflucht Leere, während ihm das Geständnis des Noblen zuteil wird; Textprobe (original): „Ich habe dich immer geliebt. Weil du schön bist.“
Da lohnt es sich, und das nicht nur, um einfältige Drehbücher und Dialoge zu vermeiden, ungleich mehr, die Lebensläufe der Angeklagten zu lesen, wie sie das Landgericht Frankfurt zusammengetragen hatte. Da sind sie: der Tischler, der Schlachter, der Krankenpfleger, der Kassierer und der Apotheker und was der bürgerlichen Brotberufe mehr sind. Da ist der Apotheker und ehem. Pharma-Vertreter Dr. Capesius (die Apotheker sollten aufheulen), der in Auschwitz Dienst an der Rampe tat und zig Tausende Menschen in die Gaskammern selektierte, bevor er, aus amerikanischer Lagerhaft erstaunlicherweise bald entlassen, als Apotheker in Göppingen u.a auch mit dem Vertrieb von Kosmetikprodukten beachtlichen wirtschaftlichen Erfolg und bürgerliches Ansehen erzielte. Eine online-Enzyklopädie berichtet, er habe noch am Tag seiner Entlassung aus der Strafhaft ein Volksfest besucht, wo ihn die Menge herzlich willkommen geheißen habe.
Als Reporter den Mörder Josef Klehr in der Strafhaft besuchten und ihm seine Taten vorhielten – er hatte einer Unzahl von Häftlingen (das Gericht sah 475 Fälle als erwiesen an) Phenol intravenös, später intrakardial verabreicht – , hielt er seinen Besuchern vor, was sie jetzt „mit ihm machten“, sei „grausam“. Ob sie sich darüber im klaren seien?
Da ist der kaufmännische Angestellte Boger, als solcher in Stuttgart tätig bis zu seiner Verhaftung 1958, zu fünfmal lebenslanger Haft verurteilt, weil er Häftlinge (in weit mehr als fünf Fällen) auf der nach ihm benannten „Boger-Schaukel“ zu Tode prügelte. Das Gericht übernimmt in diesem Zusammenhang übrigens den Begriff der sog. „verschärften Vernehmungen“, zumindest auf das Präfix „sog.“ verzichtet es ebenso wie auf Anführungsstriche, und weist darauf hin, daß Boger auch eine Dienstanweisung mißachtet habe, derzufolge bei mehr als zwanzig Stockschlägen während jener „Vernehmungen“ ein Arzt anwesend zu sein hatte.
Dergleichen ins Bild zu setzen, macht keinen realistischen Film aus; im besten Falle, der zugleich der schlimmste wäre, geriete das zur Verdopplung des Brutalen und des Widerwärtigen. Will man sich den Tätern zuwenden, um einen Eindruck ihrer Verfassung zu gewinnen (und wenn sich dabei der Magen hebt), sollte man nicht nur ihren Mordtaten, sondern auch ihrer Nachkriegsnormalität nachspüren. Dort trifft man seltener den adligen Schönling, ungleich häufiger indes den hochgradig angepassten autoritären Kleinbürger, der die Rasenkante stutzt und das Butterbrotpapier zwecks Wiederverwendung nach Gebrauch zweimal säuberlich faltet.
Gibt es haarfeine Brüche in der geordneten Tagtäglichkeit der aus dem Grauen in s bürgerliche Dasein zurückgekehrten Totschläger, der Zyklon-B-Logistiker, der Massenmörder und Sadisten? Gibt es Spuren ihres Tuns? Merkt man ihnen etwas an? Das könnte ein Kammerspiel werden. Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“ käme da in Betracht, jene knappe Erzählung über den Studiendirektor und Sadisten, der eine gymnasiale Unterrichtstunde beaufsichtigt. Vielleicht taugt das sogar für die Leinwand (eine einschlägige Bemühung wurde vor allerhand Jahren im Fernsehen gesendet und geriet bald und gnädig in Vergessenheit), wobei es ja nicht die ganz große sein muß. Eben letzteres wohl hat Kontschalowski zu seiner Kolportage aus Adel und KZ bewogen und ihr, sicher ist sicher, schließlich sind wir hier im Kino, einen Anflug von happy end verpaßt incl. ordnungsgemäßer Widmung den Opfern und dem Widerstand im Abspann.
Ob Kontschalowski jemals „Die Ermittlung“ von Peter Weiss gelesen hat, ist mir nicht bekannt. Ich vermute es aber. Dann kannte er auch den Gesang von der Schwarzen Wand und den Gesang vom Phenol und den Gesang vom Ende der Lilli Tofler, um nur dreie aus der Ermittlung, dem Oratorium in Elf Gesängen, zu nennen.
Als Deutschlands herrschende und für den Faschismus typische wie verantwortliche Schicht sieht Kontschalowski offenbar den Adel. Das hat wenig vom Alten Fritz und einiges vom kleinen. Der deutsche Adel war gewiß nicht unbeteiligt, andere waren es aber weit mehr. Neben jener crapule größenwahnsinniger Kleinbürger (Thomas Mann) war es der deutsche Generaldirektor, der den Faschismus finanziert (Thomas Mann) und der frühzeitig ein Gremium ins Leben rief, das, locker verfaßt und durch Interesse umso verläßlicher verbunden, sich zunächst Studienkreis für Wirtschaftsfragen nannte und schon wenige Jahre nach dem ersten Zusammentreffen umfirmierte in Freundeskreis Reichsführer SS.
Ob das alles für einen Spielfilm taugt? Sie meinen: Eher nicht? Kein Problem: Dann dreht man eben keinen.