Der Himmel über Smolensk

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Mit G., einem Juristen in respektabler Position, unterhalte ich mich kurz über die jüngsten Vorgänge in Polen nach dem Regierungswechsel, unter anderem den der schwer faßbaren Begnadigung eines nicht rechtskräftig Verurteilten. G. bemerkt, bei dem Flugzeugabsturz der polnischen Regierungsmaschine im Frühjahr 2010 bei Smolensk sei der klügere der beiden Brüder Kaczynski ums Leben gekommen. Ob er, wäre er nun in verantwortlicher Position, sei es als Parteichef, Präsident oder Ministerpräsident, klüger agieren würde als sein Bruder Jaroslaw, sei und bleibe ungewiß, aber denkbar.

Zweifelhaft – um einen kräftigeren Ausdruck zu meiden – scheint neben anderen Perso-nalentscheidungen im Zuge des nationalkonservativen Warschauer Regierungswechsels die Besetzung des höchsten Postens im Verteidigungsministerium. Herr Antoni Macierewicz behauptet beharrlich und allen Ernstes, der Absturz der polnischen Regie-rungsmaschine im Landeanflug auf den Flughafen Severny bei Smolensk im April 2010 sei das Ergebnis russischer Sabotage. Abgesehen von der Schäbigkeit des Anwurfes fällt auch dessen eklatante Dummheit auf. Sie mag diejenigen, die mit Herrn Macierewicz persönlich bekannt sind, nicht weiter überraschen. Diejenigen, die ein Mindestmaß an bedachtem und verantwortungsbewußtem Auftreten bei hohen und höchsten Regierungsvertretern für eine Selbstverständlichkeit halten, wollen es nicht glauben.

Der Untersuchungsbericht der russischen Luftfahrtbehörde IAC ist allgemein zugänglich. Er entspricht internationalen Standards, gleiches gilt für die Untersuchungen zu Flugverlauf und Unfallhergang. An ihnen waren neben russischen auch polnische wie übrigens auch amerikanische Behördenvertreter und Fachleute beteiligt, im Falle der US-amerikanischen Mitwirkenden solche des NTSB (= National Transportation Safety Board), dessen Ruf in Sachen Objektivität, Professionalität und Erfahrung unangefochten ist. Beteiligt waren ferner Mitarbeiter eines Unternehmens der Luftfahrtindustrie, nämlich Universal Avionics Systems Corporation UASC mit Hauptsitz in Tucson/Arizona, das die TU-154 der polnischen Regierung mit verschiedenen flugtechnischen Systemen ausgerüstet hatte, deren Aufzeichnungen in den USA in Redmond/WA ausgewertet wurden.

Abgesehen von einem Tippfehler, der den Abschluß der Untersuchung auf den 10. Januar 2010 datiert anstatt richtig auf den 10. Januar 2011 (Beginn der Untersuchungen war der Unfalltag, der 10. 04. 2010), ferner einer mißverständlichen Formulierung – die Bodenkontrolle in Severny habe der Flugzeugbesatzung „not once“ mitgeteilt, die Wetter-bedingungen ließen einen gefahrlosen Landeanflug nicht zu, gemeint ist offenbar „not only once“ oder „more than once“, dh „nicht nur einmal“ oder „mehr als einmal“ – läßt die Durchsicht des Textes, der auch dem interessierten Laien zugänglich ist und sein soll, keinerlei Umstände erkennen, wie sie der soeben ins Amt berufene Minister chronisch behauptet.

Einen Eindruck von der Qualität des Berichtes und seiner Verläßlichkeit gewinnt man auch anhand der Lektüre anderer Untersuchungsberichte des NTSB, von denen einige ebenfalls vollständig zugänglich sind. Beispielhaft erwähnt seien die Berichte zum Absturz einer MD-80 der Fluggesellschaft ValuJet im Jahre 1996 über Florida oder eines Airbus A 320 der American Airlines im November 2001 über Belle Harbor nahe New York. Man mag mir vorhalten, daß ich mit diesem Hinweis eine gewisse Neigung zum detailverliebten Voyeurismus offenbare. Tatsächlich offenbart der Hergang mancher Katastrophe ein diabolisches Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, sei es die Lagerung von buchstäblich brandgefährlichen Sauerstoffpatronen in einem Frachtabteil, das als einziges von mehreren keinen Feuersensor hat (ValuJet), sei es die unbeherrschte Reaktion eines Piloten, der den Turbulenzen, sog. Wirbelschleppen, die eine vorausfliegende Maschine verursachte, mit heftigen korrigierenden Lenkbewegungen des Seitenruders zu begegnen suchte, das daraufhin wegen Überlastung brach und das Flugzeug manövrierunfähig machte (AA Flug Nr. 587).

Im Falle der verunglückten TU-154 der polnischen Delegation, zu der auch der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński gehörte (der Bericht nennt ihn „Main Passenger“, sinn- gemäß also „Passagier Nr. 1“), kamen mehrere Faktoren zusammen. Deren erster war eine Verspätung beim Abflug von 27 Minuten, wobei ursprünglich lt. Anmeldung bei der russischen Seite ein Abflug für 08:30 vorgesehen war, der dann auf 09:00 h verschoben wurde. Tatsächlicher Startzeitpunkt war dann 09:27 h. Man war nunmehr in Eile. Das erscheint bemerkenswert mit Blick auf den Anlaß der Reise; man war zum Staatsbesuch und einer gemeinsamen Gedenkstunde mit der russischen Regierung verabredet. Gedacht werden sollte der vom sowjetischen NKWD 1940 zu tausenden und abertausenden ermordeten polnischen Soldaten bei Katyn, der Opfer eines Kriegsverbrechens also, dessen Begehung die russische Regierung nach Jahrzehnten des Leugnens eingestanden hatte.

Für den PIC (Pilot in Command) war es der erste Flug nach Smolensk-Severny, sein letztes Simulatortraining betr. stark eingeschränkte Sichtverhältnisse lag fünf Monate zurück. Im Cockpit hatte sich der Oberkommandierende der Polnischen Luftwaffe aufgehalten, der auf der Landung in Severny trotz inzwischen widriger Verhältnisse bestand, dies offenbar auf persistierende Weisung des „main passenger“ Kaczyński. Wie sich aus den gesicherten und ausgewerteten Aufzeichnungen ergibt (die wie gesagt auch in den Händen amerikanischer Fachleute, teils des NTSB, teils der Fa. UASC lagen), hatten Pilot und Co-Pilot über 12 Sekunden die nicht zu überhörenden Warnsignale des sog. TAWS (Terrain Alert Warning System) ignoriert, die eine gefährliche Annäherung an den Boden meldeten. Die Autopsie der Leiche des Oberkommandierenden der Polnischen Luftwaffe wies einen Blutalkoholgehalt von 0,6 ‰ nach. Angesichts der Verteilung im Körper war zu schlußfolgern, daß es sich bei der gemessenen BAK nicht etwa um Restalkohol wegen zurückliegenden Alkoholkonsums bspw. am Vorabend verdankte, sie vielmehr nicht lange vor dem Todeszeitpunkt, mutmaßlich während des Fluges und/oder nicht lange zuvor zustande gekommen sein mußte.

Es geht nicht darum, die katastrophalen Folgen einer Mischung aus bodenloser Schlamperei, Ungeniertheit und Provinzialität nebst befehlshaberischen Anmaßungen eines angetrunkenen Militärs wie auch des sog. Chefpassagiers als symptomatisch für was auch immer darzulegen. Die für die Organisation entsprechender Abläufe Verantwortlichen, soweit sie nicht bei dem Absturz ums Leben gekommen sind, mögen ihre Schlüsse aus dem Desaster ziehen und haben das sicher auch getan.

Bemerkenswert und mit Blick auf die Opfer beider Katastrophen – der von Katyn und der von Smolensk – von beachtlicher Schamlosigkeit ist das Auftreten des tatsächlich ins Amt berufenen und dort noch immer befindlichen Herrn Macierewicz. Ob seine Beschränktheit und seine schäbigen Manieren sich womöglich übermäßigem Alkoholgenuß verdanken, mögen diejenigen beurteilen, die unmittelbaren Umgang mit ihm pflegen, sei es, weil sie aus dienstlichen Gründen dazu verpflichtet sind, sei es, weil sie persönlich oder politisch mit ihm sympathisieren, sei es aus beiden Gründen.

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Nachtrag: Wer allen Tatsachen, aller Beweislage zum Trotz an einen Akt russischer Aggression glauben möchte, sich aber in der Gesellschaft von Leuten wie Macierewicz unwohl fühlt, kann sich Hoffnung auf gediegeneren Beistand machen. Am 15. 04. 2015 berichtete Florian Kellermann, Korrespondent beim Deutschlandfunk, über eine Ausstellung in Polen zum vierten Jahrestag der Katastrophe von Smolensk. Unter anderem sagte er: „Die Untersuchung des Unglücks verlief hinter verschlossenen Türen.“

Im Jahr zuvor, am 30.07.2014, hatte er, dies ebenfalls auf dlf, über die Absage des polnisch-russischen Kulturjahres seitens der auf polnischer Seite Zuständigen berichtet. Wörtlich führte Herr Kellermann aus: „Außerdem haben Polen die sogenannte Smolensk-Katastrophe vor vier Jahren noch längst nicht vergessen. Russland weigerte sich, den Absturz eines polnischen Regierungsflugzeugs unvoreingenommen und professionell aufzuklären.“

Mit einem sachlich wie sicher auch energisch gehaltenen Brief an dlf hatte ich dieser Aussage unter Hinweis auf den Untersuchungsbericht, seinen Inhalt und seine problemlose Einsehbarkeit widersprochen. Zugleich legte ich Herrn Kellermann nahe, seine Äußerungen zu korrigieren und seinen Kenntnisstand auf das notwendige Niveau anzuheben, damit die Ausstrahlung ungeprüfter Gewißheiten wie der vorliegenden in Zukunft unterbliebe. Zudem äußerte ich sinngemäß den Eindruck, daß eine gewisse derzeit allgemein verbreitete Voreingenommenheit in Angelegenheiten, die Rußland betreffen, das Zustandekommen der drastischen Falschmeldung begünstigt hätte. Das Schreiben blieb ohne Antwort. Ob dlf die Falschmeldung korrigiert hat, ist mir nicht bekannt.

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