Die Barbarei der Vereinfachung

Auf ZEIT online stellt die Autorin Andrea Hanna Hünniger heute fest, Deutschland „dezivilisiere“ sich, und schreibt von der „selbstgefälligen Barbarei der Gutsituierten“. Im folgenden einige Anmerkungen zu den Ausführungen von Frau Hünniger, wörtlich übernommen und in Kursivschrift kenntlich gemacht. Dort heißt es:

Clausnitz, brennende Häuser, Hass. Deutschland hat ein Rassismusproblem. Und wir denken immer noch, es ginge weg, wenn wir es wegreden, wegkommentieren. So denkt möglicherweise sogar die sächsische Justiz.

Sie gestatten, Frau Hünniger: Wen meinen Sie mit „wir“? Ansonsten: Ihren kritischen Blick auf die sächsische Strafjustiz teile ich. Insoweit haben „wir“ etwas gemeinsam. Kritische Anmerkung: die sächsische Justiz hat nicht weggeredet, sie hat hart verurteilt, wenn ihren eilfertigen Richtern und Staatsanwälten, darunter manch Schäumer in geblähter Robe, Angeklagte gegenüber standen, deren Vergehen darin bestand, gegen das Nazi-Gesindel aufgestanden zu sein.

Die passende Sprache ist uns abhanden gekommen. Wir wissen gar kein Wort für das, was wir dieser Tage in Deutschland beobachten: Besorgte Bürger? Unbescholtene mit Molotowcocktails? Brauner Mob? Rechter Terrorismus? Auf die Sprachlosigkeit reagieren viele mit einem Betroffenheitszynismus, der sich vor allem natürlich im Internet darstellt, aber auch im Fernsehen. Es heißt inzwischen von jungen, gut ausgebildeten und klugen Leuten: „Das ist nicht mein Land“ oder „Ich wandere aus“ oder „Nazis sind scheiße“ oder „Sachsen aus Deutschland raus“. Ausdrücke der Hilflosigkeit. Empathiefähigkeit geht auch da verloren, wo verlangt wird, Sachsen einfach abzuschaffen.

Zwei Fragen:

1) S. die erste (weiter oben)

2 a) Sachsen gehört nicht abgeschafft, auch nicht die Sachsen (einige mir sehr liebe Mitmenschen sind Sachsen);

2 b) die Abschaffung Sachsens, wenn überhaupt, erledigen manche (manche!) Sachsen weit zielstrebiger als jeder Anti-Saxonist es könnte.

Viele Menschen in den sozialen Netzwerken hatten nach Clausnitz sofort das Bedürfnis, die Parole „Wir sind das Volk“ wieder an sich zu reißen. Der gute Deutsche sei gefälligst das Volk, nicht der böse Deutsche. Ist jemals in den Köpfen angekommen, dass das Gerede über das Volk überhaupt erst so etwas wie die Brüllerei in Clausnitz hervorbringt? Über das Volk zu streiten, wen es umfasst und wen nicht, das nennt man – tut mir echt leid – völkisches Denken! Von führt unweigerlich der Weg zu „Wir sind EIN Volk“ zu „Deutschland den Deutschen“.

Pardon, Frau Hünniger: Das ist Unsinn. Natürlich: bei „Wir sind das Volk“ macht sich „Deutschland den Deutschen“ bemerkbar wie ein übler Geruch. Aber: Der Widerwille gegen die im Stakkato „Wir-sind-das-Volk“ bellende Mischpoke entzündet sich an der Anmaßung, sich als „das Volk“ auszugeben und sich – fast hebt sich der Magen – der Bürgerbewegung des Jahres 1989 gleichzustellen. Niemand, der seinen Verstand beisammen hat, will sich als „das Volk“ monopolisieren. Zu letzterem gehört in all seiner abstoßenden Gemeinheit auch der Pöbel von Clausnitz.

Und schon sind wir bei den Nazis.

Gegen Nazis zu sein, ist richtig. Wer ist das nicht? Nicht mal Pegida ist für Nazis.

Sind Sie da ganz sicher? Ich bin es nicht.

Aber wir haben es in Sachsen mit einer gefährlichen Parallelgesellschaft zu tun, die wir vor einigen Jahren mit stark zugedrückten Augen noch deutschen „Mainstream“ genannt haben. Das war bevor Sarrazin und Pirinçci in ganz Deutschland berühmt geworden sind mit ihrem Rassismus. Es ist aber nutzlos, das Wort Nazi zu sagen und zu glauben, man würde wenigstens jemanden damit bestrafen.

Ihrer Beobachtung der zugekniffenen Augen, der feigen Kumpanei von Teilen des Bürgertums, das sich nicht stören lassen möchte in der Fiktion, es sei doch alles in Ordnung, stimme ich lebhaft zu. Das gilt auch und erst recht für Ihre Bezeichnung der Herren Sarrazin und wie heißt der andere Blödhammel noch als Rassisten. Beide lassen mich für eine Burka-Pflicht plädieren.

Kein Witz über Hitler hat einen Brand in einem Flüchtlingsheim verhindert.

Gleiches gilt für Artikel wie den Ihren, Frau Hünniger. Im übrigen: Wasser marsch! macht Witze über Hitler nicht überflüssig. Man kann das eine tun und braucht das andere nicht zu lassen. Nennen Sie es meinethalben Multitasking. Tschuldigung, Frau Hünniger, kennense den: warum faltete der bleiche Hysteriker mit dem Chaplinbart (Peter Weiss nannte ihn so) öfters die Hände vor dem Unterleib? Deutscher Witz wußte: Damit versteckt er Deutschlands letzten Arbeitslosen.

Bürokratie blockiert Zivilisation

Hä?

Norbert Elias hat in „Der Prozess der Zivilisation“ in zwei Bänden erklärt, was eine Zusammenrottung aus Menschen zu einer Zivilisation macht. Eine Beobachtung ist darin sehr wichtig: Je kürzer die Dauer zwischen Tat und Urteil ist, desto barbarischer ist eine Gesellschaft. Das heißt, je schneller ich etwas bewerte, desto fragwürdiger ist mein Urteil.

Na na. Sind die Tatsachen offenkundig, etwa das bellende Pack vorm Flüchtlingsheim, bedarf es keiner ausgedehnteren Reflektionsphase, um es als Pack zu erkennen und zu beurteilen. Und: gilt die harmlose Gleichung „Je schneller, desto fragwürdiger“ auch umgekehrt? A la: Je länger ich mir Zeit lasse mit meiner Beurteilung, desto klüger fällt sie aus? Liebe Frau Hünniger, nun bitt ich Sie aber. Folgen Urteil und seine Vollstreckung der Tat im Minutenabstand, sind Mängel der Verhandlung (falls überhaupt eine stattgefunden hat) wie auch des Urteils unübersehbar. Zugleich gilt: nicht nur die Gesellschaft, sondern auch der Straftäter hat Anspruch auf zügige, dabei sorgfältige Ermittlung. Überlange Dauer zwischen Ermittlung, Anklageerhebung und Hauptverhandlung kann (kann!) zur Strafmilderung führen.

. . . Shitstorms und Hasskommentare, genauso wie Schafft-Sachsen-endlich-ab sind Ausdruck der Barbarei. Barbarisch ist das Vorgehen von Pegida, AfD, Brandstiftern an Flüchtlingsheimen. Barbarisch sind die Reaktionen wie „Ostdeutschland hat ein Rassismusproblem wegen des Kommunismus“ oder „Weg mit Sachsen“.

Natürlich ist die Gleichung: „Kommunismus führt zum Rassismus“ einigermaßen simpel, um nicht zu sagen: sturzdämlich. Über die These, derzufolge regional und signifikant häufiger manifestierte Ausländerfeindlichkeit ihre Wurzeln auch (auch!) in der dumpfen Provinzialität autoritärer Bedingungen hat, wie sie für die DDR typisch war, sollte man allerdings reden. Eine Gedankenlosigkeit, und eine reichlich dreiste gleich dazu – so deutlich möchte ich denn doch werden, Frau Hünniger – ist die Gleichsetzung der mordlüsternen Brandstiftung (= barbarisch) mit der These von ihrer Begünstigung durch „kommunistisch“ geprägte Biografien und Mentalitäten ( = barbarisch).

Was wir gerade erleben, ist Norbert Elias‘ Prozess der Zivilisation, nur rückwärts. Nicht einmal die Bürokratie will noch mitmachen. Wichtige Institutionen wie das Berliner Lageso funktionieren nicht mehr.

Halten Sie das sog. Lageso in Berlin für „die Bürokratie“?

Die Überforderung äußert sich freilich in der Kommunikation. Die Bürokratie blockiert den zivilisatorischen Umgang.

Hä?

. . . Man könnte in diesen Tagen direkt aus der Zeitung eine Dystopie abschreiben. Es wäre einer der schlimmsten Romane. Er läse sich wie eine Fiktion, ein stümperhaftes, zu sehr nach Brecht klingendes Theater.

In dem – tut mir leid, Frau Hünniger – auch manche Ihrer Zeilen störungsfrei Platz fänden. Ein J´accuse verlangt doch ein wenig mehr als hochgestimmtes Klagen, mehr als das hastige wie kolossale Gemälde von der nationalen Verwilderung.

. . . Ausgerechnet die gut Behüteten schreiben nun in ihrem pseudopolitischen Jargon: „Das ist nicht mehr mein Land.“ (Die Kanzlerin selbst hatte das vor wenigen Monaten in einem Konditionalsatz angekündigt.) Es wenden sich vor allem jene ab, die in der 15. Generation aus Baden-Württemberg stammen und jetzt behaupten, sie hätten mit diesem Deutschland überhaupt nichts zu tun, sie müssten auswandern, weil sie Faschismus nicht ertrügen: „Entweder ich gehe oder Sachsen.“ Das ist nicht nur auf Facebook, sondern auch in privaten Gesprächen zu beobachten. Als wäre der Molotowcocktail aus Sachsen direkt ins Wohnzimmer der geflogen.

Muß die Friedrichshainer WG, deren Mitglieder den Pöbel vorm Flüchtlingsheim ekelhaft finden, sich dafür entschuldigen, daß der Molotowcocktail nicht in ihrem Wohnzimmer gelandet ist? Was zum Donner reden Sie da?

Die mit dem guten Auskommen setzen sich eine selbstherrliche Opfermaske auf, die ihnen überhaupt nicht passt. Sie jammern lediglich über die menschenfeindliche Bande aus Pegida, AfD oder rechten Straftätern. Da steht Wohlstandsentfremdung gegen ein wirkliches „Nichtdazugehören“. Das eine ist der Ekel der Begünstigten dieses Landes, das andere ist eine wirklich existierende Fremdheit, weil Deutschland in vielerlei Hinsicht und für viele andere wirklich nicht durchlässig ist.

Woher wissen Sie, daß tiefer Widerwille gegen die Schreier ein „gutes Auskommen“ indiziert? Und muß, wer ein gutes Ein- oder Auskommen (oder beides) hat, sich denunzieren lassen als „gut behütet“? Als selbstherrlich? Wieso bedeutet der (klischeehaft bemühte) „Wohlstand“ (ab welchem Monatseinkommen beginnt er?) zugleich „Entfremdung“?

. . . Aber erst mal schnell auf Facebook geschrieben, dass Deutschland eklig ist, und die gute Tat, die sich im Kommentar erschöpft, am besten noch mit einem Selbstlike bewundern. Wenn wir uns weiterhin so sehr in dieser Rolle gefallen, werden wir wenig verändern.

Nochmal: Wen meinen Sie mit „wir“? Falls Sie mich einbeziehen in diesen unmajestätischen Plural: das verbäte ich mir denn doch, und das nicht etwa, weil ichs gern majestätischer hätte. Und falls Sie mit „wir“ allen Ernstes meinen sollten: „Wir alle“ – dann hat facebook seine Wirkung schon entfaltet, nach wie vor verehrte Frau Hünniger: denn die Kommentierung des Widerlichen als widerlich findet keinesfalls nur dort statt, umgekehrt mag auch auf facebook nicht nur, aber auch (reichlich) widerliches zu finden sein (ich bin da auf Vermutungen angewiesen, da ich facebook nicht nutze). Daß dort das talent- und gedankenlose Salbadern eine Heimstatt hat, glaube ich. Warum es typisch sein soll und „gute Deutsche“ indiziert, bleibt Ihr Geheimnis.

Diese Empörung dient nur der Zementierung des Zustands, in dem Gewalt als ein probates Mittel hingenommen wird, um Menschen auszugrenzen. Der gute Deutsche kann dem freilich nur mit Auswanderung entgegentreten, na klar. In diesen Tagen reden wir nicht über Flüchtlinge als schutzbedürftige Mitmenschen.

Wir reden nur über uns selbst.

Zum dutzendsten Male: wer ist „wir“?

So verletzen wir die Würde derer, die bei uns Zuflucht suchen. Wir neutralisieren sie zum Objekt. Flüchtlinge sind dann nur zufällig lebende Objekte ohne eigenen Willen. Wir haben das Subjekt zum Objekt gemacht. Niemand fragt mehr: Was erwarten eigentlich die Flüchtlinge von uns? Sie müssen selbst handeln dürfen. Und zwar mit unserer Hilfe.

Alles andere ist nur eine Fressattacke von Wohlstandsentfremdung.

Und der Artikel aus Ihrer Feder – es tut mir leid, Frau Hünniger – deren getreuer Ausdruck. Standen Sie unter Zeitdruck, als Sie ihn verfaßten?

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