Just a pawn in the game oder: Warum ich Herrn Ai Weiwei für überschätzt halte

09. Februar 2016

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Nicht erst seit der jüngsten und bis dato vielleicht geschmacklosesten Selbstdarstellung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei am Strand von Lesbos konnte man den Eindruck gewinnen, daß die Schaffenshöhe seiner Kunstwerke sich umgekehrt proportional zu deren weltweiter Resonanz verhält. Dazu demnächst ein paar Worte.

Einstweilen und der Reihe nach diese hier:

Die chinesischen Formen der Machterhaltung und der Strafjustiz sind in hohem Maße optimierbar, um es dezent zu formulieren. Die Strafmaße gegen sog. Regimekritiker sind unverhältnismäßig, soweit sie überhaupt der Gesetzeslage entsprechen.

Zu den Gründen für Ai Weiweis Inhaftierung im Jahre 2011 kommt ungeachtet zahlloser Presseberichte kaum mehr (auch nicht weniger) als ein educated guess in Betracht, nämlich: Schauprozeß, willfährige Justiz, Einschüchterung per vorgeschobenem Haftgrund etc. Allerdings: auch in Deutschland würde Haftbefehl ergehen (und vollzogen), kämen Finanzverwaltung und Staatsanwaltschaft zu dem Schluß, ein Steuerpflichtiger sei bei Abgabe seiner Steuererklärung zu subjektiv gewesen, dies zu Lasten des Fiskus und in Höhe von 1,7 Mio. € fälliger aber hinterzogener Steuern. Obendrein sei er im Begriff gewesen, das Land zu verlassen. Tatverdacht, Fluchtgefahr und Verdunklungsgefahr, maW die Haftgründe, wären zu bejahen.

Nicht akzeptabel nach hiesigem Verständnis, das auch das meine ist, waren die Geheimhaltung des Inhaftierungsortes und die zumindest sehr weitgehende Unterbindung des Kontaktes zu Anwälten wie auch Dritten, wie es die Presse vermeldet hatte. Gleiches gilt für die Nachstellungen der Behörden zum Nachteil engagierter Anwälte (s. jüngst und statt vieler ‘I’m a petitioner – open fire!’ von Chaohua Wang in London Review of Books 05. 11. 2015 einschließlich des Hinweises auf den Film des brillianten Regisseurs Zhao Liang mit dem Titel „Petition) und für eine Justiz, die sich immer noch als ausführendes Organ der Macht versteht. Nicht zuletzt die Haftbedingungen sind zu nennen, die würdelos gewesen sein dürften, insoweit aber keine rein chinesische Besonderheit darstellen (was sie nicht harmloser macht oder gar entschuldigt). Die Inhaftierungspraktiken in manchen anderen Ländern, die noch um einiges restriktiver sind, rufen weit seltener und weniger energische Kritik hervor, wenn überhaupt. Erwähnt seien die notorischen Brutalitäten der US-amerikanischen Justiz, die bspw. einen sechzehnjährigen Jungen, festgenommen auf der Grundlage zweifelhafter Anschuldigungen, über drei Jahre in U-Haft hielt, von denen er die meiste Zeit in Einzelhaft verbrachte (s. den Artikel von Patrick Bahners auf faz.net vom 10.06.2015 „Es gibt kein Entkommen“, der sich seinerseits und maßgeblich auf mehrere brilliante Artikel von Jennifer Gonnerman in The New Yorker stützt; der junge Mann, er hieß Kalief Browder, hat sich später das Leben genommen; s. ferner und statt vieler auch die Reportage von Tina Kaiser, Die Welt).

Nochmal: Das macht die chinesischen Unarten und Defizite nicht akzeptabler. Ein Unrecht bleibt ein Unrecht, auch wenn es nicht das einzige und übrigens auch nicht das größte seiner Art ist. Auffallend ist allerdings die selektive Behandlung der einschlägigen Thematik.

On Stage

Ein Artikel in der FAZ vom 01. 01. 2016 bezeichnet Ai Weiwei als „Bildhauer und Men- schenrechtler“. Weder die eine noch die andere der Bezeichnungen ist geschützt, die Aus- übung beider Berufe ist frei und nicht von Prüfungen oder behördlichen Zulassungen abhängig. Mutige Männer und Frauen, die gegen Dummheit und Anmaßung angehen, ver- dienen Respekt und alle Unterstützung. Im Falle von Ai Weiwei scheint – vielleicht nicht nur mir – die Inszenierung im Vordergrund zu stehen (was der U-Haft nichts von ihrer Wirklichkeit nimmt). Der Betrieb braucht seine Freiheitshelden wie das Bierzelt die Blaskapelle und die Tanzrevue das Nummerngirl. Ein David muß her, und der muß nicht aus Marmor sein. Eine aufblasbare Kopie, eine Betriebsnudel genügt.

In jüngster Zeit sind da und dort betretene Andeutungen in der Presse zu vernehmen. Man mag nicht länger übersehen, daß „unser Ai“ ein mäßig ergiebiger Gesprächspartner ist, der abgestandene Witzeleien von sich gibt und als Interviewpartner auf eine kritische Frage unsouverän reagiert (s. die Artikel dazu in ZEIT-online vom 13.08.2015) und der übrigens nichts dabei fand, Bewerbungsgespräche mit Studenten, die sich um Zutritt zu seiner Lehrveranstaltung bewarben, per Video aufzunehmen und die Aspiranten einschließlich ihrer Unfertigkeiten alsdann bei seiner Antrittsvorlesung in Berlin öffentlich vorzuführen.

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Letzteres en passant zum Thema menschliche Würde und Respekt, Überwachung und Bloßstellung. Kritische Reaktion und Kommentierung erfährt letztere vor allem dann, wenn und soweit sie in China stattfindet und nicht in Berlin, wo man sich vom Diktat der Umgangsformen und des Respektes offenbar befreit hat.

Wie es aussieht

Herr Ai ist bildender Künstler. Dieser Beruf steht jedermann offen, und auch ein schlechtes Kunstwerk bleibt ein Kunstwerk. Die Werke Ai Weiweis, soweit mir bisher bekannt geworden, wirken banal auf mich, sie erschöpfen sich (und vielleicht nicht wenige Betrachter) in Gesten, denen willige wie prätentiöse Interpretation Bedeutung zu verleihen, um nicht zu sagen: herbeizureden hat. Man denke etwa an die vier oder fünf Baumwurzelstumpen, das Stück zu ca. hundert kg oder mehr, dick angemalt in lila und gold und silber, abgelegt im neu geschaffenen Brüder-Grimm-Museum zu Kassel, wo man der klobigen Hommage offenbar hilflos, dankbar und fachlich ratlos gegenüberstand.

Hanno Rauterberg hat zum Schaffen des Gefeierten die kritischsten Worte gefunden, etwa in der ZEIT vom 03.04.2014 und vom 19.09.2015. Der Respekt vor dem kulturellen Erbe Chinas, als dessen Bewahrer Herr Ai sich präsentiert (um nicht zu sagen: aufspielt), fand anläßlich der documentaXII beispielhaften Ausdruck in einer zusammengenagelten Bastelarbeit aus hölzernen Türen älterer Art, die beim ersten Sommergewitter kollabierte, worauf der Kurator Bürgel den Müllhaufen auf der grünen Wiese als Offenbarung des Eigentlichen bejubelte.

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Macht der Wanderzirkus Station im Deutschen Pavillon, c/o Biennale d´Arte di Venezia im Jahre 2013, bilden 887 hölzerne Dreibein-Schemel, zusammengeleimt und -genagelt, die übliche Rauminstallation. Ein Merkblatt zum Verständnis liegt aus, und art hilft mit: „In den traditionellen dreibeinigen Sitzgelegenheiten, die in der kommunistischen Ära durch minderwertige Plastikstühle ersetzt wurden, sieht der Künstler ein Sinnbild für Handwerkskunst und Individualität, die im heutigen China mit Füßen getreten werden.“

Oder eben mit Plastikschemeln zugeschmissen werden, was einem Tritt in den Volkshintern offenbar gleichkommt. Pflichtgemäß zu betrauern ist der Niedergang einer vorrevolutionären wie reaktionären Idylle vom treuen Zimmermann, der Schemel auf Schemel aus wahrem Holze eigenhändig nagelt und schleift, leimt und lasiert. Stattdessen zwingt die maoistische Gleichmacherei hunderte Millionen plebejischer Hinterteile auf Schemel aus Kunststoff. Einsam setzt und sitzt Herr Ai auf Holz.

Helden

Aber nicht lange, denn der Betrieb kann nicht warten. Neuerdings sind bunte Steckbausteinchen von Lego das Material der Wahl, Plastik hin, Fußtritt her, und ein aktuelles Vorhaben segelt unter der Flagge Andy Warhol/Ai Weiwei. Was für eine Kombination: Andy Warhol war ein begabter Zeichner, Maler und brillanter Grafiker. Ob man beiden Künstlern, genauer gesagt, dem Andenken des einen wie dem Schaffen des anderen, per Gemeinschaftsausstellung einen Gefallen tut, scheint fraglich. Diplomatisch gefaßt: Zu unterschiedlich in Ausführung und Ergebnis ist die Qualität der Werke. Geplant und aus Lego-Steinchen inzwischen wohl verfertigt sind Porträts zu Unrecht und aus politischen Gründen inhaftierter Menschen, denen man schon deshalb schleunigste Haftentlassung wünschen möchte.

Weshalb aber Lego? Warum nicht Bauklötze aus Naturholz, tradierten Schemeln gleich? Legosteinchen sind bunt und bekannt, man kann alles Mögliche damit basteln, entsprechend dem Formempfinden und den motorischen wie gestalterischen Fähigkeiten von Kleinkindern. Die Altersempfehlung des Herstellers lautet auf eineinhalb bis fünf Jahre. Kindlichkeit genießt die Vermutung der Unschuld. Verhält ein Erwachsener sich kindlich, nennt man das infantil. Nietzsche benannte die klassischen Stimulantien der Erschöpften: das Künstliche, das Brutale und das Unschuldige; letzteres nannte er auch: das Idiotische.

Rebellische Helden brauchen eine Feste, gegen die sie anrennen als wärs die Hure Babylon, und wenn die noch so bieder unter Fa. Lego firmiert und eine Anfrage betr. eine Großlieferung (bulk order) kaufmännisch unaufgeregt und abschlägig bescheidet. Instagram und twitter erlauben hierzu Einblick ins innerste Arsenal der künstlerischen Rebellion, und das ist – wers nicht glaubt, mag sich den Anblick zumuten – die Klosettschüssel, über der in Abweichung vom täglichen Geschäft nicht dieses oder jenes Hinterteil herniedergeht, sondern ein Haufen aus Legosteinen und darüber ein Fotoapparat, der den Einfall notiert. Gewiß: kein bekannter Mann ist dagegen gefeit, daß ein Bewunderer sich mit einer plumpen Hommage meldet. Herr Ai veröffentlichte sie.

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Formen der Anteilnahme

Niemand ist verpflichtet, sich in Dingen der bildenden Kunst an den traditionellen Kanon der Mittel zu halten, etwa an den der figurativen Malerei. Die unterschiedlichsten Gesten und Arrangements sind denkbar, Inszenierungen, Dichtkunst, Rezitationen, Fotografie, Malerei, Collage, Montage und Film, souveräne Metiers allesamt, die einander zudem ergänzen mögen. Horst Janssen (1929 – 1995) bemerkte lapidar: Der Appell ist eine Sache fürs Plakat (und man darf anfügen: es gibt Beispiele herausragender Plakatkunst). Keines der diversen Genres entbindet indes von den Imperativen, den Anforderungen an das Können, die auch nicht mittels einer guten Absicht außer Kraft gesetzt werden, etwa der Anteilnahme und Erinnerung an das Schicksal der Namenlosen und der Verfolgten.

Die Geschichte der bildenden Kunst ist überreich an Darstellungen des Leidens, das die Brutalität der Herrschenden, der sadistische Eifer der Rechtgläubigen und übrigens auch und erst recht die Aussicht auf hohe Profite anrichten. Niemand macht Herrn Ai zum Vorwurf, daß ihm die Befähigung eines Géricault abgeht und ihm ein Floß der Medusa nicht gelingen will. Niemand macht ihm zum Vorwurf, daß ihm die bildliche und dramaturgische Begabung denkbar fernliegt, die in dem grandiosen dokumentarischen Film „Behemoth“ des Regisseurs Zhao Liang zutage tritt, der mit der Bescheidenheit, der Sorgfalt und dem Respekt des Chronisten von den Bedingungen berichtet, unter denen chinesische Gruben- und Gießereiarbeiter leben, arbeiten und sterben.

Catherine David, documenta-Kuratorin im Jahre 1997, hatte von der erstaunlichen Beharrlichkeit gesprochen, mit der sich das Tafelbild behaupte. Prägnante Beispiele sah man vor knapp zwei Jahren in der Ausstellung „Voice of the Unseen“ in Venedig, die parallel zur Biennale d´Arte und unabhängig von ihr stattfand und letztere des öfteren deklassierte in puncto Originalität, Können, formale Vielfalt und kritischem Potential. Kurator der Ausstellung war Wang Lin, in Sichuan ansässig und tätig, die Ausstellung fand statt unter aktiver Beteiligung des Kunstmuseums Guangdong. Dies zur allseits gern gepflegten These, daß bildende Kunst in China nur als Jubelkunst gestattet und möglich sei.

Zu den zahlreichen ausgestellten Werken gehörten sechs großformatige Gemälde von Xu Weixin aus dem Jahre 2009. Sie porträtieren Opfer der mörderischen maoistischen Raserei, bekannt und erinnerlich als Kulturrevolution. In nüchternem Schwarz-Weiß erinnern sie an Paß- oder auch Fahndungsfotos und scheinen von den Bildern Gerhard Richters beeinflußt, die unter dem Namen Stammheim-Zyklus bekannt geworden sind.

Eines der Porträts ist Yan Fengying (1930 – 1968) gewidmet, einer Schauspielerin und Sängerin, die diffamiert, gedemütigt und verfolgt wurde und der man zuletzt die notwendige Heilbehandlung in einem Krankenhaus verweigert hatte. Sie starb.

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Xu Weixin: „Yan Fengying“ aus der Serie „Portraits in History“ (sechs Gemälde in Öl auf Leinwand jew. 250 x 200 cm, 2009), Wiedergabe mit freundl. Genehmigung von Xu Weixin

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Eine Hommage aus bunten Bauklötzchen blieb ihr und der Nachwelt erspart. Nicht erspart, den Toten nicht und nicht den Lebenden, blieb das Kolossalplakat, das im Jahre 2009 eine Außenwand am Münchner Haus der Kunst bedeckte und aus tausenden bunter Schulranzen zusammengeleimt war. Die formten in chinesischen Schriftzeichen die Worte: „Sieben Jahre lebte sie glücklich in dieser Welt“.

Man erinnert sich: Im Mai 2008 bebte in der chinesischen Provinz Sichuan die Erde. Zu den etwa neunzigtausend Toten gehörten tausende Schulkinder, die unter den Trümmern nicht erdbebensicherer Schulgebäude erschlagen und begraben wurden.

Herr Ai erkannte seine Chance. Tausende toter Kinder sind ein Kapital, das man nicht links liegen läßt, und mag der Vorwurf noch so naheliegen, daß ein Stümper sich zu billigsten Bedingungen an ihrem Andenken bedient. Und während die Schauspielerin Sharon Stone noch eine Lektion in Buddhismus und Gefühlstiefe gab, mit der es ihr so ernst war, daß sie weder Zeit noch Kraft und Neigung fand, ihren Alkoholspiegel zu senken, sondern als angesoffene Schickse vor die Weltpresse trat und erläuterte, daß tausende toter Kinder, unter Trümmern erschlagen, verblutet und erstickt, im Sinne eines „Karma“ wohl die verdiente Konsequenz von Chinas Auftreten in der chinesischen Provinz Tibet seien (und der Dalai Lama „a very good friend of mine“), war Herr Ai schon fündig geworden: eine Todesanzeige chinesischer Eltern, die ihre Tochter, ein kleines Schulmädchen, beim Erdbeben in Sichuan verloren hatten, lieferte der großformatigen Bastelei den Text, auf daß alle Welt sich kostengünstig rühren ließe. Ob die Arbeitsbedingungen, dies am Rande, unter denen neuntausend Schulranzen (vermutlich in China) produziert worden sind und die nicht eben arbeitnehmerfreundlich sein sollen, je das Interesse des Gefeierten fanden, ist mir nicht bekannt, auch nicht, ob er die trauernden Eltern um Erlaubnis zur gröhlenden Schaustellung gebeten hatte.

Übergriffe

Niklas Maak schrieb im Frühjahr 2014 in der FAZ: „Ai wurde fast totgeprügelt, als er sich für die Hinterbliebenen der Kinder einsetzte, die bei einem Erdbeben in nachlässig gebauten staatlichen Schulen starben, und den Korruptionsskandal öffentlich machte.“ Was immer die Gründe für den militanten Zusammenstoß zwischen Ai und seinen Gegnern gewesen sein mögen: sein Versuch einer Offenbarung des weltweit und übrigens auch in China allseits und umgehend bekannt gewordenen Erdbebens war es mit Sicherheit nicht. ESWN zB hatte schon am 13.05.2008 zahlreiche Fotos vom Erdbeben und seinen Opfern, und zwar vor Ort von überlebenden Betroffenen gemacht, veröffentlicht. Xinhua berichtete vor nicht langer Zeit über ein neu eröffnetes Museum, das sich dem Erdbeben widmet und Bilder der Zerstörung präsentiert.

Anders als in früheren Zeiten, als Naturkatastrophen den Optimismus des Klassenkampfes störten, berichtete das chinesische Fernsehen CCTV bereits kurz nach den ersten verheerenden Erdstößen non-stop und in live-Übertragungen vom Geschehen. Die Katastrophe löste eine Welle nationaler Hilfsbereitschaft und Solidarität aus. Unter dem 11.06.2008 berichtete xinhuanet über die mangelhafte bauliche Qualität öffentlicher Gebäude, insbesondere der Schulen, und die Verabschiedung schärferer gesetzlicher Vorschriften zur Erdbebensicherheit. Bei dieser Sachlage zu behaupten, ein Weißer Riese Ritter namens Ai sei auf den Plan getreten und habe unter größter persönlicher Gefahr ein furchtbares Geheimnis offenbart, mag sich strahlender Eitelkeit, besser gesagt: Scham-losigkeit verdanken, der ein uninformierter oder auch schlicht linientreuer Journalismus die Lampe hält.

Auch nur der leichteste polizeiliche Übergriff ist nicht zu dulden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang freilich Ai Weiweis Film „So sorry“, der den Protagonisten als eine Art Sonderermittler zeigt (Autofahrten, steile Perspektiven, wackelige Kameraführung), u.a. auch die Szene (bei 46:30 min), in der er einen Mann zur Rede stellt und ihm vorwirft, ihn vor einiger Zeit festgenommen zu haben. Sein Auftreten scheint geprägt von der Euphorie der wichtigen Mission, er stellt sein Gegenüber vor laufender Kamera bloß, reißt ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht und versperrt ihm den Weg. Der Angegriffene bleibt beherrscht. Von ähnlichem Zuschnitt war Ai Weiweis Auftritt zusammen mit ein oder zwei Gehilfen auf einer Polizeiwache in China, wo er die anwesenden Beamten ungefragt per Video filmte. Die ließen sich das gefallen, was in diversen anderen Ländern, darunter auch der Bundesrepublik Deutschland, vielleicht etwas anders verlaufen wäre. Sollte Ai Weiwei sich ähnliche Anmaßungen anläßlich des Konfliktes mit Polizisten in Chengdu erlaubt haben, müßte man sie als evtl. mitursächlich für seine dabei erlittenen Verletzungen annehmen. Daß er sie überstanden hat, ist eine gute Nachricht (daß er sich im Kranken- haus in München aufführte, als wäre es sein Studio samt Audienzsaal für Presse und Verehrer, ist keine).

Erstaunlich bleibt die Zuerkennung einer auf drei Jahre angelegten Gastprofessur in Berlin, dies erst recht angesichts des Namens Einstein (!), den die gewährende Stiftung trägt. Der Verlauf der Antrittsvorlesung löste auch bei Vertretern der geneigteren Presse Zweifel bis hin zu regelrechtem Mißfallen aus. Mit den sechzehn erfolgreichen Bewerbern für die Teilnahme an seiner Lehrveranstaltung (?), die den Ehrgeiz aufgebracht und vor dem wählerischen Zulassungsverhalten (incl. öffentlicher Bloßstellung, s. oben) des frisch berufenen Gastprofessors bestanden hatten, möchte er nach eigenem Bekunden eine Art kumpelhafte Rasselbande bilden. Herr Düllo, Moderator der Bühnenschau, befand, die werde „Meilensteine“ setzen. Meinte er Lego-Steine?

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Eine Antwort zu Just a pawn in the game oder: Warum ich Herrn Ai Weiwei für überschätzt halte

  1. aquadraht sagt:

    Eine gute und kundige Darstellung. Aus China selbst zur Ergänzung ein Ereignis, das sich nach meiner Erinnerung 2009 oder 2010 abgespielt hat und damals im chinesischen Internet breite Resonanz fand. Protagonisten waren ein Professor der Rechte einer Pekinger Universität, einige der regierungskritisch-liberalen Richtung geneigte Miniblogger im chinesischen Netzwerk von Sina Weibo, eine Journalistin und Herr Ai Weiwei.

    Der Professor hatte im Internet die chinesische Regierung und die kommunistische Partei verteidigt, in einigen kontroversen Punkten, so auch in der Frage der grossen Versorgungskrise nach dem „Grossen Sprung“ in den „drei bitteren Jahren“ 1959-1961. Er war daraufhin von seinen Kontrahenten, unter anderem einer Journalistin der liberalen Nanfang-(Süden)Pressegruppe (mit den Organen Nanfang Ribao/Zhoumo – südlicher Tag/südliches Wochenende) zur Diskussion in einen Pekinger Park gefordert (gebeten wäre untertrieben gewesen) worden. Er kam auch. Es gab wohl einen erhitzten Disput, vor allem bezüglich seines Bestreitens einer grösseren oder mindestens so grossen Zahl von Opfern wie seine Kontrahenten behaupteten. Die Frage der Opfer der Hungersnot von 1959-61 ist in der Tat kontrovers und ein Politikum. Die liberalen Kontrahenten begannen dann auch, den Professor zu beschimpfen und zu bedrängen.

    In dieser Situation erschien dann Herr Ai Weiwei, und schlug dem Professor mehrmals ins Gesicht. Ein Begleiter, etwas kräftiger gebaut als der schmächtige Jurist, drängte ihn ab. Es gibt Bilder von dieser Demonstration liberaler Meinungsäusserung, wie der bullige Ai den schmächtigen Mann packt und schlägt; ich habe sie auf die Schnelle nicht gefunden. Der Professor machte diesen Vorfall im Internet öffentlich, und die Meinungen waren gespalten, wenn auch in der Mehrzahl kritisch gegenüber der Gewaltanwendung. Rechtliche Konsequenzen gab es nicht.

    Dies nur als Schlaglicht zu den Verhältnissen in China. Gewiss herrscht dort keine Rechtsstaatlichkeit oder Rechtssicherheit in der Weise wie in Mitteleuropa. Das wirkt aber nicht nur in einer Richtung. Gewiss gibt es Willkür und Repression, aber auch Freiräume, die sich Oppositionelle in etablierten Rechtsstaaten nicht träumen lassen würden.

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