Ver­flucht und Aben­teuer: Pro­fes­sor Gum­brecht, der Wohl­fahrts­staat und die ästhe­ti­sche Inten­si­tät der Schuß­wunde

So kanns gehen: Stanford-Prof aus Deutschland nimmt Werbeplakat auf deutschem Flughafen beim Wort. Weil der Text von den „wichtigsten Tagen des Jahres“ spricht, gemeint ist der Urlaub, entdeckt der emigrierte Wissenschaftler den Wohlfahrtsstaat, und zwar e contrario. Der halte sich nur aus der Freizeit raus, ansonsten sei er immer da und umhege den Bürger; der Verf. spricht von einer „dem Einfluss des Staats enthobenen Freizeit„.

Klar: man denke nur an die StVO, deren vier Buchstaben eines der eher noch harmlosen Monstren bürokratischer Sprachgewalt verbergen: die Straßenverkehrsordnung. Deren Einhaltung setzt der Staat (jawohl: der Staaaat, es rette sich wer kann) nach Kräften durch, dies mit Polizisten, Gerichten, Behörden, Nachweisen technischer und wenn es sein muß auch neurologisch-psychiatrischer Art, Blaseröhrchen und BAK-Tests, Gutachten, Dokumenten und Registern, dazu einer Galerie von Verkehrsschildern, die im Sinne der sog. Blinkertheorie hunderte Millionen mal pro Tag Verwaltungsakte verbindlich verkünden.
Der Urlaub setzt das alles außer Kraft, da hält der Staat sich raus, Vorfahrt ist abgeschafft, und das Tempo-130-Schild ist eine unverbindliche Dekoration am Wegesrand. Art. 2 Abs. I GG, der die allgemeine Handlungsfreiheit verbürgt, erlaubt während der wichtigsten Tage des Jahres das Fahren mit Lichtgeschwindigkeit nicht nur auf der Autobahn, sondern auch in der Fußgängerzone.

In Amerika ist man da weiter, und das nicht nur im Urlaub: Hier herrschen ganzjährig Freiheit und Risiko. Wer mit einem `Start-up´ nicht in die Erfolgsspur findet, hat keine Garantie, von einem federnden “sozialen Netz” aufgefangen zu werden. Hübsch, gell? Nur: derlei Garantien gibts auch in Deutschland nicht, und wenn Prof. G. zehnmal hat läuten hören, es gebe sie doch. Wer hierzulande mit seiner Geschäftsgründung pleite geht, macht Bekanntschaft mit dem Insolvenzgericht und der Arbeitsagentur. Ist er arbeitsfähig, liegt er an der kurzen Leine der Zumutbarkeiten: Jede Arbeit gilt als zumutbar, so ihr eine Vergütung mindestens in Höhe sog. Grundsicherung entspricht.

Aber wer Freiheit als Versprechen à la John Wayne oder Prinz Eisenherz begreift, muß natürlich zusammenfahren, wenn ihm Worte wie Rentenversicherung begegnen oder gesetzliche KV. Es ist die nicht auszurottende Platitüde, Staat sei per se Unterdrückung. Wer die historischen Erfahrungen der amerikanischen Immigration, die sich vor den Verwüstungen und Anmaßungen eines Europa etwa des 19. Jh. und erst recht der ersten Hälfte des zwanzigsten in die USA rettete, ohne Rücksicht auf den historischen Wandel in die Gegenwart überträgt, ergeht sich in einem Leiden ohne Verstand.

Dramatik der Gletscherspalte

Ernst Bloch sprach von den Tarzanphilosophen. Hinzugetreten ist mittlerweile John Wayne, der sich vor den wollenen Tugenden des Wohlfahrtsstaates in Acht nimmt, die jede abenteuerliche Gestimmtheit, donnernde Hufe nebst Mantel-und-Degen-Phantastik zuverlässig abtöten. Übrigens auch die Herausforderungen der eisigen Höhen, das Drama der sturmumtosten Klamm. Denn als Beispiel für den Willen zum Abenteuer präsentiert Gumbrecht das Bergsteigen: junge englische Aristokraten hätten es „auf die Bahn gebracht“ (!). Was ihm entgangen scheint: lange bevor ein Rudel blasierter Bankerte aus der Ereignislosigkeit ihres Daseins in Richtung Bergwelt abhob (und ein Literaturprofessor sich in einer freien Minute der Geschichte der Alpinistik zuwandte), gehörte das Bergsteigen zu den (überlebens)notwendigen Fähigkeiten ihrer Bewohner. Die hätten den zugereisten Bengeln Bergführungen gegen Honorar angeboten und ihnen nachhaltig Bescheid gestoßen für den Fall der dreisten Anmaßung, das Bergsteigen „auf die Bahn“ bringen zu wollen.

Dann ist da außer der Bergwelt noch der „Wilde Westen“, für Gumbrecht ein anderer Topos wahrer Freiheit. Ja, wenn ich an die „Glorreichen Sieben“ denke und an den „Mann aus Laramie“ – da kommen die Königsstraße in Kassel und der Bergpark einfach nicht mit. Und mit Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, daß ein Mann reifen Alters von Abenteuer und fernen Ländern schwärmt, um bei drei dummen Mädchen zu landen, denen allerlei westliche Presse-Organe die Spalten freimachten: Pussy Riot (zu deutsch: Pflaumenrabatz oder auch Muschi-Randale) und ihr talentfreies Hopsassa, ihre gekeiften Bemühungen im gesanglichen Fach (wofür die drei, keine Frage, unverhältnismäßig abgestraft wurden) als – wie bitte? – „ästhetischer Wille zur Selbstherausforderung„. Man mag sich nicht ausmalen, welchen Aktionen diese prätentiöse Hohlformel die Aura hoher Bestimmung verleihen könnte.

Where freedom rules

Ganz anders sieht das alles aus im Land der Großen Freiheit. Die Risiken, die der sog. Wohlfahrtsstaat seinen Bürgern nicht völlig erspart, sie aber doch recht spürbar eindämmt, sind zB in Chicago leibhaftig: 780 Tote infolge gun violence allein während des Jahres 2016, dazu die fünf- bis sechsfache Zahl Verletzter. Das ist Risiko, das ist Wettbewerb.

Where the action is: Übersichtskarte Schießereien seit Januar 2017 in Chicago
(Screenshot aus Chicago Tribune)

 

Das ist Abenteuer pur und erinnert an die grinsende Physiognomie von Donald Rumsfeld, aus der die Bemerkung hervorquoll, das mörderische Chaos in den Straßen von Baghdad nach dem amerikanischen Überfall 2003 sei der prägnante Beweis, daß nunmehr auch in Baghdad Freiheit herrsche. Und wer wie Hans Gumbrecht in Stanford lehrt und ansässig ist, lebt in sicherer Entfernung von Gegenden, die ihren Bewohnern und Passanten Realitätsnähe von finaler Intensität bescheren. Die Los Angeles Times kartographiert laufend.

Schwerpunkte der Großen Freiheit
(Screenshot LA Times Homicide Report)

 

Wie borniert muß man eigentlich sein, um einem Land, das die mit Abstand höchste Inhaftierungsrate weltweit aufweist, die Aura der großen Freiheit nachzusagen? Das sich mit barbarischen Strafmaßen und einer notorischen, öfters mörderischen Polizeibrutalität hervortut? Wehe dem armen Teufel, der zB in Kalifornien wegen eines Bagatellvergehens im Wiederholungsfall ertappt und verurteilt wird. Lebenslange Haft ist ihm sicher, und frühestens nach 25 Jahren darf er erstmals einen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stellen. Der Supreme Court mochte darin keine ungewöhnliche oder grausame Bestrafung erkennen und hat die Widerwärtigkeit abgesegnet.

*  *  *

Kurz und knapp: Gumbrechts Gleichungen sind einfältig. Und sie sind arrogant: man möchte ihm, der den Weitgereisten gibt, denn doch nahelegen, die Intensität und die Risiken einer gängigen deutschen Erwerbsbiographie näher zu studieren oder sich ihr, und sei es nur vorübergehend, am besten einmal selbst auszusetzen, als teilnehmender Beobachter in eigener Sache sozusagen. Und wohlgemerkt: nicht alle deutschen Arbeitnehmer sind Software-Ingenieure bei BMW oder CNC-Fräser bei Audi.

Nehmen wir einen Maschinenbediener beim Autozulieferer xy, verheiratet, zwei minderjährige Kinder, Ehefrau tätig in Teilzeit, sein Stundenlohn sagen wir 15 € bei 167 Stunden pm; macht an die 2500 € brutto p.m. = ca. 2000 netto (bei StKl 3). Hinzu kommen Kindergeld für zwei und die Einkünfte aus einem Teilzeitjob der Frau, sagen wir 400 € (bei StKl 5). Macht knapp unter 2800 € netto p.m. (die steuerliche Belastung des Hauptverdieners liegt je nach Freibetrag bzw. Kinderfreibetrag im minimalen Bereich.) Klingt prima vista nicht so schlecht, muß aber für vier Häupter reichen. Zieht man um die 1000 € für die Warmmiete ab (was in allerlei wunderhübschen, dabei mäßig abenteuerlichen Städten und Gegenden Deutschlands kaum reichen dürfte), dazu Kredittilgung (PKW, Möbel), ggf. Kosten für den Platz in der Kinderkrippe, zwischendurch mal eben eine Autoreparatur, warum  nicht, wird’s noch enger.

Und selbst wenn die Vergütung den Verdiener und seine Familie leidlich, vielleicht sogar halbwegs ordentlich durch den Monat bringt und einmal im Jahr in den Urlaub: müssen die sich dafür entschuldigen? Und bei wem eigentlich? Bei einem Blasé, der ein Werbeplakat betrachtet und seine Ressentiments für das Parlando des Wissenden hält?

Die Ästhetik der Schußwunde

À propos: was macht eigentlich das Abenteuerliche im täglichen Leben als Stanford-Professor aus? Bei welchen Gelegenheiten beweist er persönlichen Mut? Beim Einparken? Im Supermarkt? Im Seminar? Er selbst nennt uns ein Beispiel:

Nach einer Nacht auf dem Polizeirevier wegen einer Trunkenheitsfahrt und in Gesellschaft eines anderen Festgenommenen, der angeblich an einer tödlichen Schießerei beteiligt gewesen war, findet er: das schaffe Realität, das sei echt intensiv. Und fügt, das Haupt gewiß betrachtsam wiegend, an: Ob derlei Intensität wohl „das Äquivalent des Hässlichen in der Ästhetik des Schönen“ sei? Ach Gott, was fragense mich, möchte man erwidern. Und eine kleine Übung im Jargon der Beliebigkeit wagen, etwa so: Vor allem offenbart sich in dieser Frage die Dekonstruktion des Sinnhaften zugunsten einer Banalsemantik, deren idiosynkratisches Äquivalent die para-narzisstische Hermeneutik des Fiktionalen prätendiert. Oder so ähnlich.

Als ob das Dasein unterhalb der Schwelle eines fehlenden oder wucherischen Gesundheitssystems und ohne das Risiko, in einer beliebigen Alltagssituation abgeknallt zu werden, die reine Verwöhntheit indizierte. Als ob der Arbeitnehmer, der in täglichem Regelmaß abhängiger Beschäftigung nachgeht, sich von einem selbstgefälligen Schwärmer vorhalten lassen müsse, ihm fehle es an Mut. Als ob er sich nie für berufliche Qualifikation habe anstrengen, als ob er nie den Aufschub einer Belohnung habe durchstehen müssen. Als ob es keine anspruchsvollen berufsfachlichen, keine akademischen Prüfungen gebe und Bewerbungen, die erfolgreich sein können oder auch nicht. Als ob der „Wohlfahrtsstaat“ das Risiko des Scheiterns, das Herrn Gumbrecht so wohlig agitiert, abgeschafft hätte.

Jemandem, der unterhalb von Eiger-Nordwand und Gletscherspalten-Gedöns und außerhalb von Laramie und Tombstone nur risikoscheue Kleinbürger sieht, empfehle ich: Probieren Sie es doch mal aus: Gehen Sie arbeiten! Und äußern Sie sich anschließend (anschließend!) zum Thema.

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