Kölnische Gewißheiten oder: Kleine Hommage an die FAZ

Thema einer Radiosendung aus den siebziger Jahren war die Bild-Zeitung. Der Moderator fragte, welches wohl das häufigste Wort in deren Texten sei. Die Schätzungen, so berichtete er, lagen mehrheitlich bei „Mord“, ferner „Blut“, oft auch „Verbrechen“. Alles falsch: das häufigste Wort, so der Bericht, sei „Million“.

Das würde zum Überwältigungsvokabular des Blattes passen. Die große Zahl signalisiert ungeheures, unvorstellbares, dem man sich besser nicht in den Weg stellt. Das gilt auch dann und erst recht, wenn nicht bezifferte Größen die bezifferte Riesenzahl übersteigen. Kafkas Landvermesser K. hört vom Vorsteher: Sie sind sehr streng. Vertausendfachen Sie Ihre Strenge, und sie wird nichts sein gegen die Strenge, die die Behörde sich selbst gegenüber anwendet.

Eine Strenge von dieser Dimension, von bitterster Intensität muß es gar nicht sein, aber ein Tausendstel davon wünschte man den Kölner Polizeibehörden, den Medien und der Öffentlichkeit doch. Ich selbst nehme mich davon nicht aus.

In Köln wurden in der Sylvesternacht „aus einer Ansammlung von tausend und mehr Personen“ heraus Straftaten begangen, maßgeblich Diebstahl, Beleidigung, Nötigung und sexuelle Belästigung, uU auch sexuelle Nötigung. Das sagt nichts über die Zahl der Täter. Es können zwei oder zwanzig oder zweihundertfünfzig gewesen sein. Gegen die Annahme, es seien nur zwei oder drei gewesen, spricht die Zahl der Anzeigen, die seither bei der Polizei eingingen. Die wiederum sprechen von Tätern nordafrikanischen Typs, was sie aus deren äußerer Erscheinung schließen, ebenso kämen solche aus dem arabischen Raum in Betracht. Das wird nicht ganz falsch sein, ebensowenig wird es vollkommen zutreffen. Träfe es zu, sagte es noch nichts über die Verteilung innerhalb dieser nur grob kontu-rierten Gruppe. Vor allem sagte es nichts über die behaupteten Risiken einer infolge starken Zustroms von Flüchtlingen ansteigenden Kriminalität, nämlich über den Anteil frisch zugereister und nur vorläufig Geduldeter, deren Asylantrag noch nicht beschieden ist.

In diesem Zusammenhang verdient ein Artikel von Patrick Bahners in der FAZ vom heutigen Tage Aufmerksamkeit. Er befaßt sich mit Inhalt und Diktion des mittlerweile wohl bundesweit bekannt gewordenen Gedächtnisprotokolls eines am Einsatz (soweit von einem solchen die Rede sein kann) beteiligten Bundespolizisten, das jener lt. SZ am 1. Januar verfaßt habe, wobei der Bericht, wie Bahners hervorhebt, das Datum 04. Januar trägt. Angesichts der unfertigen Stilistik und der diversen Rechtschreibfehler, die bspw. der WDR aus Gründen der Objektivität belassen habe, könne man den Eindruck bekommen, der Bericht sei tatsächlich unter dem ganz unmittelbar nachwirkenden Eindruck der Geschehnisse verfaßt worden. Deshalb habe man das Datum 04. Januar eben auch leicht übersehen können, so Bahners in kollegialer Verständnisbereitschaft.

Mittlerweile wohl schon millionenfach gelesen und in leidenschaftlichen Diskussionen wiedergegeben und argumentativ zugunsten stürmischer Positionen bemüht ist jene Aussage des Berichts (der kein amtlicher, also nicht etwa ein Polizeibericht ist, auch dies hebt Bahners hervor), diverse von der Polizei angegangene Verdächtige oder Störer (oder beides) hätten ihre „Aufenthaltstitel“ vor den Augen der Beamten „zerrissen“. Bahners weist darauf hin, daß sog. Aufenthaltstitel bis 2011 in Form von Aufklebern im Paß ausgegeben worden seien, seither in Form von Plastikkarten – das eine wie das andere Dokument zerreiße man nicht mal eben so.

Wieviele Menschen den Artikel von Patrick Bahners lesen werden? Tausende, Millionen? Zigtausende vielleicht, vielleicht auch ein paar mehr. Weit größer dürfte die Zahl derjenigen sein, denen sich das Bild des frisch zugereisten Arabers eingebrannt hat, der vor den Augen des deutschen Polizeibeamten mit diabolischem Hochmut seinen „Aufenthaltstitel zerreißt“.

Öfters mal wünsche ich die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Teufel, idR mindestens einmal täglich, dies angesichts mancher Kommentare mancher ihrer führenden Mitar-beiter. Immer mal wieder liefert sie aber auch Beispiele eines nüchternen Journalismus, der sich nicht von der Verve aktueller Dringlichkeiten vereinnahmen läßt, sondern tut, was seines Amtes ist: Aussagen überprüfen, abgleichen, kritisch nachfragen und berichten.

Ob der namenlose Bundespolizist seinen Erlebnisbericht willentlich dramatisiert, maW gelogen hat, ist noch offen. Möglich ist es, erwiesen ist es nicht. Dank der Hinweise von Patrick Bahners wird man zumindest einige seiner Schilderungen mit einem Begriff charakterisieren können, den Rentengutachter für die expressiven bis unglaubhaften Schilderungen mancher ihrer Probanden verwenden. Taktvoll und wörtlich sprechen sie von bewußtseinsnaher Fehldarstellung.

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Eine Antwort zu Kölnische Gewißheiten oder: Kleine Hommage an die FAZ

  1. aquadraht sagt:

    Ein schöner und informativer Beitrag. Ein kurzer Hinweis zum Komplex (ich habe ihn schon in Telepolis angemerkt) Köln 31.12/1.1. und Leipzig-Connewitz :

    In Köln wurden angeblich oder tatsächlich bis zu 240 Frauen mehr oder
    weniger schwer sexuell belästigt, zum Teil genötigt. Es gab dabei
    keine einzige ernsthaft Verletzte. Zusätzlich gab es noch ein paar
    mehr Diebstähle und Fälle von Körperverletzung (keine Frauen),
    Diebstahl und Raub, teilweise tateinheitlich. Die vermutliche Zahl
    der Täter aller Delikte liegt zwischen 60 und 150, die Minderheit
    Sexualstraftäter. Die gesamte Republik tobt und schäumt. Der
    Bundestag beschäftigt sich damit.

    In Connewitz wurden über 100 Läden, Lokale und
    Dienstleistungseinrichtungen verwüstet, teilweise ausgeraubt, eine
    zweistellige Zahl von Menschen wurde, teilweise erheblich, bis an die
    Grenze versuchten Totschlags, verletzt, im Zusammenhang eines
    Bandenverbrechens des schweren Landfriedensbruchs. Etwa 150 der bis
    zu 300 mutmasslichen Verbrecher wurden namhaft gemacht. Die
    bundesweite Reaktion von Öffentlichkeit und Politik: Null.

    Ein aufmerksamer Kommentator hat angemerkt, dass die Kölner Ereignisse, so sie sich mehr oder minder so abgespielt haben wie berichtet, einen Fall von Hooliganismus darstellten, allerdings den ersten Fall von Hooliganismus mit massiver sexueller Belästigung. Wie alle Fälle von Hooliganismus ist das eine Herausforderung an die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

    Connewitz dagegen war ein Pogrom. Nicht der erste in der Geschichte der BRD – Rostock-Lichtenhagen lässt grüssen, aber dennoch sind solche Ausbrüche rechtsextremer Massengewalt kein Normalfall. Dafür war die Reaktion, auch auf Seiten der Linken und sowieso der ex-Grünen Tarnfleckpartei (schwarzgrünbraun), ausgesprochen verhalten.

    a^2

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